Digitale Gewalt: tabuisiert, bagatellisiert und verharmlost

Digitale Gewalt ist ein ernstes Problem, das oft nicht als solches wahrgenommen wird. Sie verunsichert, macht krank und verändert Leben. Digitale Gewalt passiert nicht nur auf Social Media Plattformen, sondern auch per SMS, WhatsApp oder E-Mail. Es ist ein großes und sehr wichtiges Thema, über das dringend gesprochen werden muss. Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Judith Strieder von HateAid auszutauschen. HateAid ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für Menschenrechte im digitalen Raum einsetzt und sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen engagiert. Judith ist ausgebildete Psychologin und arbeitet in der Betroffenenberatung von HateAid. 

In einem unserer letzten Blogbeiträge ging es um Diversität. Diversität und digitale Gewalt lassen sich verknüpfen und so hatten wir ein sehr informatives Gespräch mit Judith, die uns den Bogen von Diversität zu digitaler Gewalt im Alltag und im Arbeitsleben aufzeigte. 

Hallo Judith, was bedeutet digitale Gewalt? 

Digitale Gewalt findet zwar vor allem in sozialen Netzwerken statt, umfasst aber viel mehr: Sie passiert auch offline, zum Beispiel per SMS. Es ist wichtig, all diese Angriffe als Gewalterfahrung ernst zu nehmen. Unsere Psyche kann nicht zwischen der analogen und der digitalen Welt unterscheiden. Drohungen oder Beleidigungen, die online geschehen, können ebenso psychische und physische Folgen haben wie ähnliche Angriffe in der analogen Welt. 

Straftaten wie Beleidigung, Bedrohung, Nötigung und üble Nachrede können auch digital stattfinden. Orte, an denen digitale Gewalt geschieht, sind variabel: per SMS, E-Mail, in Kommentarspalten, Chatgruppen und unter Zeitungsartikeln. Darüber hinaus gibt es spezifische digitale Phänomene wie Doxing (Verbreiten und Veröffentlichen sensibler Daten), das Erstellen von Fake-Accounts, Romance Scam (Vortäuschen romantischer Absichten zur finanziellen Ausbeutung) und Sextortion (finanzielle Erpressung durch die Androhung, kürzlich verschicktes intimes Bildmaterial zu veröffentlichen  

Wie hängt Diversität mit digitaler Gewalt zusammen? 

Die sozialen Netzwerke sind ein Ort, wo sich viele Communities zusammenfinden und austauschen. Menschen, insbesondere marginalisierte Gruppen – zum Beispiel Menschen mit Rassismuserfahrungen, die LGBTQIA+-Community und Frauen, finden dort Gleichgesinnte und Rollenbilder. Diese Gruppen werden jedoch von rechtsextremen Gruppierungen gezielt aus dem Internet gedrängt. Kurz, digitale Gewalt schränkt Diversität ein. Auch Mitlesende, die ihre Stimme erheben möchten, können aus Angst vor Angriffen verstummen und sich zurückziehen. Die aktuellen Entwicklungen auf Social Media Plattformen bereiten uns auch mit Blick auf unsere Demokratie große Sorgen. 

Hast du das Gefühl, dass es bestimmte Gruppen gibt, die besonders betroffen sind? 

Ja, laut der Studie „Lauter Hass – leiser Rückzug¹“ sind vor allem junge Frauen, Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund und Menschen mit homosexueller oder bisexueller Orientierung häufiger betroffen. 

Zusätzlich kann ich aus meiner Beratungserfahrung sagen, dass es jede Person treffen kann. Auch wenn man sich keiner marginalisierten Gruppe zugehörig fühlt, ist man nicht automatisch geschützt. 

Wie viel Verantwortung übernehmen die Social Media Plattformen denn selbst?  

Wir müssen leider sagen: Zu wenig. Wir sehen in unserer Beratung, dass die Plattformen oft willkürlich gegen illegale Inhalte vorgehen.  Die Algorithmen tragen zur massenhaften Verbreitung von Hass, Gewalt und Desinformation bei. Denn aufgeladene Emotionen ziehen die Menschen an und sie halten sich dann länger auf der jeweiligen Plattform auf. Auf diesen Seiten wird währenddessen Werbung geschaltet, an der die Plattformen verdienen. So liegt es zumindest nahe, dass wirtschaftliche Interessen oft das Wohlergehen der Nutzenden überwiegen. Die von diesen Geschäftsmodellen ausgehenden Schäden für unsere Gesellschaft müssen dringend eingedämmt werden. Deshalb müssen Plattformen konsequent reguliert und zur Verantwortung gezogen werden. Wir müssen zum Beispiel mehr Einblicke in ihre Funktionsweise erhalten, um zu verstehen, welche ganz konkreten Auswirkungen die Algorithmen der Plattformen auf unsere Gesellschaft haben. 

Wie kann digitale Gewalt im Arbeitsalltag passieren? 

Im Büro begegnet uns digitale Gewalt häufig in Form von E-Mails. Wir haben in der Beratung außerdem die Erfahrung gemacht, dass es gerade in Behörden oft zu Frust-Anrufen kommt, die sehr belastend sind.  

Weiterhin kann ich mir vorstellen, dass Personen, die gendersensible Sprache verwenden, sich im Arbeitsumfeld oft nicht wiederfinden. Ein Beispiel wäre eine nicht-binäre Person, deren Geschlechtsidentität dort nicht bekannt ist, sei es, weil die Person nicht darüber sprechen möchte oder weil es nicht zur Regel gehört, über Pronomen und Anrede zu sprechen. In solchen Fällen kann es passieren, dass diese Person ständig falsch gegendert wird. Das ist zwar kein Straftatbestand, kann aber eine individuelle Gewalterfahrung darstellen, die die Person im Alltag macht. 

Es könnte hilfreich sein, den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, ihre Pronomen anzugeben, wenn sie möchten. Das kann dazu beitragen, Berührungsängste und Blockaden abzubauen. Solche Maßnahmen fördern ein respektvolleres und inklusiveres Arbeitsumfeld. 

Judith, du sagtest, dass nicht immer ein offensichtlicher Strafbestand vorliegen muss. Natürlich kann ich mich wegen dieser „unterschwelligen“ Angriffen aber schlecht fühlen. Kann ich trotzdem bei HateAid Hilfe suchen?  

Ja, unbedingt! Denn der Unterschied zwischen uns und den Strafverfolgungsbehörden ist ja die unterschiedliche Einordung der Gewalterfahrung. Denn die Erfahrung, die eine betroffene Person gemacht hat, muss nicht strafrechtlich relevant sein, um mit uns zu sprechen. Wir besprechen die Erfahrung gemeinsam mit der betroffenen Person. Und hier kommen ganz unterschiedliche Wahrnehmungen hervor. Oft werden Vorfälle von den Betroffenen nicht als Gewalttat eingeordnet und als „gar nicht so schlimm“ empfunden. Andere wiederum nehmen es als eine massiv belastende Erfahrung wahr. Wir arbeiten betroffenenzentriert, das heißt, wie es der betroffenen Person mit der Erfahrung geht, entscheidet sie selbst und ich spreche ihr das nicht ab.  

Hast du Empfehlungen für Unternehmen, wie sie ein Umfeld schaffen, dass die Mitarbeitenden ermutigt und befähigt, sich zu öffnen? 

Ich kann mir vorstellen, dass kleine Impulsvorträge oder Workshops sehr hilfreich sind, um das Thema erst einmal einzuordnen. Denn es dauert erfahrungsgemäß lange, bis betroffene Personen auf uns zukommen. Da hilft es, immer wieder auf das Angebot und unsere Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber zu verweisen.  

Hast du Tipps, wie ich mich vor digitaler Gewalt schützen kann?  

Ja, es gibt einige einfache Tricks, die eine große Wirkung erzielen können:  

  • Schnittstellen gegen Hacking absichern: Sichere Passwörter benutzen und diese regelmäßig ändern.
  • Unterschiedliche E-Mail-Adressen nutzen: Eine für den Beruf, eine für Privates (Instagram, PayPal und Bankaccount, etc.) und eine für Newsletter.
  • Keine automatische Bildspeicherung auf WhatsApp. Wenn hier Fotos automatisch einfach heruntergeladen werden, kann es passieren, dass Schadsoftware heruntergeladen wird. Auch das ist eine Schnittstelle für Hackingangriffe.  
  • Vorsicht bei E-Mails von unbekannt: Anhänge nicht öffnen und Links nicht anklicken (Phishing).  
  • Überlegtes Verhalten im Internet: Versuche, die Anzahl der Anmeldungen und Registrierungen auf verschiedenen Webseiten gering zu halten und Informationen wie Handynummer, Adresse und E-Mail-Adresse möglichst nicht zu verwenden.

Wenn eine Person dich wirklich angreifen möchte, lässt sich das nicht verhindern. Dann ist es wichtig, sich selbst zu beobachten und ernst zu nehmen:  

  • Wie geht es mir? 
  • Schlafe ich schlecht? 
  • Kann ich mich konzentrieren? 
  • Bekomme ich Kopfschmerzen?

Wenn das der Fall ist, kannst du reagieren und dir Unterstützung suchen – entweder bei einer Vertrauensperson oder bei uns. Hauptsache, du bist nicht allein! Idealerweise sicherst du Bild- und Textmaterial des Angriffs (rechtssicherer Screenshot), sodass die Tat im Zweifel zur Anzeige gebracht werden kann. 

Wo kann ich mir Hilfe holen? 

Du kannst uns jederzeit kontaktieren unter: https://hateaid.org/betroffenenberatung/  

Liebe Judith, vielen Dank für das spannende Interview. 

¹Lauter Hass – leiser Rückzug | Studie zu Hass im Netz 2024 (kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de)